Pfingsten - das vergessene Fest

Hauptsächlich in Lateinamerika, aber auch in Afrika und Asien wächst die Kirche mit einem Elan, der für uns unvorstellbar ist. Allerdings sind es nicht die traditionellen Kirchen, die die Men­schen so anziehen. Es sind vielmehr die schnell wachsenden Pfingstkirchen.

In deren Gottesdiensten wird gefeiert und getanzt, es werden Heilungen vollzogen, die Menschen geraten in Verzückung, flippen aus und reden in fremden Zungen. Die meisten von uns wären ge­schockt über diese Art, Gottesdienste zu feiern.

Auch bei uns haben die Pfingstler längst Fuß ge­fasst. Wenn wir zur TOSS in die Eisenbahnstraße gehen, dann finden wir dort viele Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft. Das Bild dort erinnert an den Pfingstbericht der Apos­telgeschichte: da sind Leute aus allen Erdtei­len beieinander, und es sind mittlerweile so viele, dass sie dort neu bauen müssen. Aber wirkliche Probleme gibt es dort nicht – alles wird in einer Art Orgie des Heiligen Geistes aufge­löst.

Umgekehrt macht die Kirche bei uns oft einen leblosen Eindruck. „In Europa gleicht die Kirche einem Baum im Winter, dessen Äste kahl und wie tot sind.“ So ähnlich sagte es vor kurzem im Ge­spräch ein Befreiungstheologe aus Brasilien. Uns fehlt scheinbar der inspirierende Pfingstgeist. Wir haben nicht die Kraft, das Evangelium so zur Sprache zu bringen, dass alle, und insbesondere die an den Rand Gedrängten, es verstehen. Wir Theologen und Kirchenleute ziehen uns zu oft auf die alten und erstarrten Formeln und Formen zu­rück, und mit Pfingsten können die meisten Leute nichts mehr anfangen.

Es sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille: der enthusiastische Überschwang und das Ausflippen einerseits, und das Beharren, Festhalten und Er­starren andererseits.

Nach den Berichten der Bibel verheißt Jesus den Geist, aus dem er selbst lebt, seinen Jüngern. Nicht umsonst feiern wir Pfingsten nach Karfrei­tag und Ostern. Wenn wir in der Nachfolge Jesu uns dem Tod gegenüber öffnen, wenn wir im Lichte von Ostern unseren Tod nicht verdrängen

müssen: dann sind wir mitten im Leben gleichzei­tig von diesem selben Leben distanziert. Dann sind wir befreit von dem Druck, der oft auf unse­rem Leben lastet. Wenn wir uns nicht in unseren kleinen Lebensverhältnissen verschließen, son­dern dem Unsagbaren und dem Unbekannten des Künftigen - Jesus nennt es das kommende Him­melreich - geöffnet sind: dann atmen wir den Pfingstgeist. Sofern wir aus diesem Geist leben, leben wir mitten in den Schwierigkeiten dieser Welt auch und gleichzeitig jenseits dieser Welt. Das ist ein kostbares Geschenk, denn diese Dis­tanz entlastet uns von allen Teufeleien, die uns das Leben so schwer machen. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ sagt uns Pau­lus. Der Pfingstgeist macht unser Leben transparent und ermög­licht uns, dass wir unser seltsames einzigartiges Leben als Geschenk erfahren dürfen.

Sowohl die Pfingstler, wie auch unsere altern­den Kirchen erkennen für sich nur einen Teil der Wahrheit. Die einen wollen die Realitäten überspringen und flüch­ten in einen unver­bindlichen Enthusias­mus. Umgekehrt wiegen bei uns die Realitäten oft zu schwer, und wir lassen uns von den aus der Vergangenheit kommenden Verhältnissen zu sehr einschnüren.

Ich plädiere für einen dritten Weg. Darum gefällt mir das Pfingstbild von Giotto so gut. Der Ur­sprung des Geistes bleibt unsichtbar, im Jenseits; gleichzeitig setzt er den Raum in ein ganz anderes Licht. Giotto zeigt die vom Geist erleuchteten Jünger voller Klarheit und Nüchternheit, wie sie in der Freiheit des Heiligen Geistes die anstehen­den Probleme souverän beraten und angehen. Ganz zurecht nennt Paulus die Weisheit und Er­kenntnis als erste unter den Geistesgaben, und darum verstehen sich die Menschen dann gegen­seitig. Der Heilige Geist will uns zu einem guten Umgang mit der Wirklichkeit befreien.

In Lustnau haben wir schöne Weihnachtsbräuche und wunderbare Ostermorgenfeiern. Ob es uns gelingt, auch für das Pfingstfest eine ihm gemäße Form zu finden?           

Helmut Schneck

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