Der Vorabend der Reformation
Mehrere Gründe führten dazu, dass es zur Reformation in „Deutschland“ gekommen ist und sie Erfolg haben konnte. „Deutschland“ gab es nicht als zentralisierten Staat wie England oder Frankreich. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestand aus vielen Einzelterritorien: zirka 350 weltliche und geistliche Territorialstaaten, Grafschaften, reichsfreie Städte, Abteien usw. Der Kaiser war zwar die höchste Instanz im Reich, wurde aber von den Kurfürsten gewählt und musste ihnen in der sogenannten Wahlkapitulation zugestehen, ihre territorialen Rechte zu wahren. Das höchste gesetzgebende Organ des Reiches waren die Reichstage, auf denen die Kurfürsten, der Hochadel im Reichsfürstenrat und die Reichsstädte stimmberechtigt waren. Die Einzelterritorien hatten demzufolge viel Macht. Dies führte im Laufe der Reformation dazu, dass die einzelnen Territorien entschieden, welche Konfession sie haben wollten, was der Kaiser verhindern wollte, es aber wegen seiner fehlenden Macht nicht konnte. Kaiser Karl V. war in den ersten Jahren nach Luthers Thesenveröffentlichung und darüber hinaus mit Kriegen gegen Frankreich und das Osmanische Reich beschäftigt, sodass er sich wenig um die Angelegenheiten im Reich kümmern konnte. Einzelne Landesfürsten wiederum konnten sich durch die Einführung der Reformation von Kaiser und Papst emanzipieren.
Eine weitere emanzipatorische Strömung war der Humanismus, der für eine Wiederbelebung der antiken Gelehrsamkeit eintrat. Mit ihrem Prinzip „ad fontes“ („Zu den Quellen“), das sich im reformatorischen Schriftprinzip widerspiegelt, studierten die Humanisten antike Autoren und entwickelten daraus eine kritische Haltung gegenüber der Gegenwart. Hinzu kam, dass im Zuge der Renaissance der Blick auch auf das Individuelle, auf den Einzelnen, gelegt wurde. Ein weiterer glücklicher Umstand war, dass durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (Mitte des 15. Jahrhunderts) reformatorische Meinungen vervielfältigt und verbreitet werden konnten.
Der wesentliche Grund für die Reformation, die Luther in Bewegung setzte, hatte freilich religiöse Ursachen. Durch die großen Pest-Epidemien im Hoch- und Spätmittelalter, die ganze Landstriche entvölkert hatten, aber auch durch die hohe Säuglingssterblichkeit war der Tod für die Menschen allgegenwärtig, mit ihm die Angst vor dem individuellen Gericht direkt nach dem Tod (Partikulargericht) und vor dem Jüngsten Gericht in der Endzeit. Die Menschen wollten sich ihres jenseitigen Heils versichern. Dazu gehörten fromme Stiftungen, Seelenmessen, Wallfahrten, Prozessionen und der Erwerb von Ablassbriefen, durch die die Zeit im Fegefeuer verkürzt werden sollte. Durch Geldzahlungen konnte so Heil erworben werden, was einer „Veräußerlichung“ religiöser Praxis gleichkam. Das Geld wurde für die Hofhaltung des Papstes, seine Kriege oder beispielsweise für den Bau des Petersdoms in Rom verwendet. Der Bischof war nun mehr Fürst als Seelsorger und Prediger. Messen wurden aus finanziellen Gründen reihenweise veranstaltet. Der Zölibat wurde kaum noch beachtet. Der Klerus war weitestgehend theologisch unbeleckt und schlecht ausgebildet, was nicht gerade zu Tiefen religiöser Aktivitäten führte. Viele Gläubige sehnten sich aber nach mehr als den von der Kirche angebotenen äußerlichen Heilswegen. So kam es zu religiösen Strömungen wie der Mystik, deren zentrale Vorstellungen die „Leerwerdung“, das Loslassen von Begierden und Leidenschaften ist, damit sich der Geist Gottes im Menschen ausbreiten kann. Die Reformbewegung „Devotio moderna“ („moderne Frömmigkeit“) verband mystische Einflüsse mit einer stark ethisch und praktisch ausgerichteten Frömmigkeit. Das Idealbild der Brüder vom gemeinsamen Leben, die in klosterähnlichen Gemeinschaften ohne Ordensgelübde zusammenlebten, war die christliche Urgemeinde. Das Hauptwerk der „Devotio moderna“ „Von der Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen betont die unmittelbare Beziehung des Gläubigen mit Gott, ein Gedanke, der später von den Reformatoren stark hervorgehoben wurde.
Innerkirchliche Reformbemühungen durch John Wyclif, der im 14. Jahrhundert in England wirkte, oder den tschechischen Reformator Jan Hus, der auf dem Konstanzer Konzil als Ketzer verbrannt wurde, wurden niedergeschlagen. Schon Wyclif richtete sich gegen die Missstände im Klerus, gegen Bilder-, Heiligen- und Reliquienkult sowie Zölibat. Er lehnte auch die Transsubstantiationslehre ab, die besagt, dass in der Feier des Abendmahls Brot und Wein leibhaftig zu Leib und Blut Christi verwandelt werden. Hus kritisierte offen die Habsucht und Verweltlichung des Klerus und plädierte für eine grundlegende Reform auf der Grundlage der Bibel. Außerdem erkannte er den Papst nicht als höchste Autorität in Glaubensdingen an. Zahlreiche von John Wyclif und Jan Hus formulierte Kritikpunkte und Vorschläge wurden von den Reformatoren aufgenommen und weiterentwickelt. sg