Mehr als fromme Wünsche

Die Elemente des Gottesdienstes - Fürbitte und Vaterunser

Im letzten Drittel des Got­tesdienstes wendet sich die Gemeinde gedanklich der Welt und dem Alltag zu. Innerlich gesammelt und neu gestärkt durch Lesung, Predigt und Lieder, werden nun ganz bewusst unsere Bitten, sowie die Sorgen, Nöte und Ängste unserer Mitmenschen vor Gott gebracht.

Die Fürbitten

In der Fürbitte kommt die Gemeinde ihrer ureigens­ten Aufgabe nach, denn Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern setzt sich in Beziehung zum Nächsten. Dies geschieht im Handeln fürein­ander, aber auch im Beten füreinander. Vielen Men­schen gibt es Kraft und Mut, wenn sie wissen, dass für sie gebetet wird, im Angesicht von Widrigkeiten, Krankheit oder Leid, Sterben und Trauer. Fürbitten sind keine frommen Wünsche oder moralischen Appelle. Wie jedes Gebet ist es ein „Reden des Herzens mit Gott“. In diesem „Gespräch“ regiert das Vertrauen. Vertrauen, dass wir uns einge­stehen können: es gibt so manches, was nicht in unserer Hand liegt und so man­ches, bei dem wir manchmal ohnmäch­tig, manchmal fassungslos den Kopf schütteln müssen. So manches, bei dem wir allein nicht viel ausrichten können. Dennoch wollen wir uns der Welt gerade nicht entziehen – nicht alles unter den Teppich kehren, was uns den Mut raubt. Da tut es gut zu wissen, dass bei Gott die richtige Adresse ist. Demut, Mut und Mutlosigkeit finden hier ihren Platz. Trost und neue Hoffnung können erfahrbar werden.

Fürbitten sind deshalb auch nicht auf den Bereich der Gemeinde begrenzt, vielmehr entgrenzen sie den eigenen Horizont: alle Menschen sind darin ein­geschlossen, ob Christen oder Nichtchristen. Tradi­tionell hat die Fürbitte im Gottesdienst drei Teile: Die Bitte für die Kirche im Ganzen, dann die Bitte für die Welt samt den Regierenden und schließlich das Gebet für die Notleidenden. Aber die Bitten für­einander können selbstverständlich weitergeführt werden: für die menschliche Gesellschaft und für die, die darin vergessen werden, für die Umwelt und alles Leben auf der Erde, für Verfolgte und auch – das ist, finde ich, etwas Wesentliches und Besonde­res des christlichen Glaubens – für die Verfolger. Zwischen den einzelnen Bitten singt die Gemein‑

de gemeinsam ein „Kyrie“ und nimmt so die Bitten hörbar und bewusst als ihre Bitten an.

Das Vaterunser

Die Fürbitten werden abgeschlossen mit dem Vater­unser. Die ganze Gemeinde betet nun laut zusam­men. Dies war nicht immer so: Erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wird es regelmäßig von der Gemeinde gesprochen.

Nach dem neutestamentlichen Zeugnis geht das Vaterunser auf Jesus selbst zurück. Daher gilt es als Grundtext des Christentums. Es ist das Gebet der Christenheit und hatte schon sehr früh einen festen Platz in der urchristlichen Gottesdienstliturgie. Bis heute trägt es unser Beten in der Ökumene. Wenn wir es beten, stellen wir uns in die Gemeinschaft der Christen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Besonders eindrücklich kommt das für mich zum Ausdruck, wenn in einem Gottesdienst das Vaterun­ser gleichzeitig in verschiedenen Spra­chen gebetet wird.

Ein weiteres verbindendes Element ist, dass während des Vaterunsers die Gebetsglocke läutet. So können alle, die nicht zum Gottesdienst kommen können, mitbeten und sind so in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinge­nommen.

Auch über den Gottesdienst hinaus hat­te das Vaterunser die Frömmigkeit der Menschen geprägt. Nach einer der ältesten christ­lichen Kirchenordnungen wurden die Christen zum Beispiel angehalten, dieses Gebet dreimal täglich zu beten. Ob das allerdings tatsächlich allgemeine Pra­xis war, wissen wir nicht. Einige hundert Jahre spä­ter ordnete Kaiser Karl der Große an, dass nur Tauf­pate werden durfte, wer das Vaterunser auswendig konnte. Auch Martin Luther war fürs Auswendigler­nen. Doch er wehrte sich dagegen, dass die Beter es einfach gedankenlos sprechen. Daher nahm Luther es in seinen Katechismus auf, so dass die Leute es besser verstehen konnten.

Die ersten Sätze des Gebets führen uns zu Lob und Dank: Wir dürfen Gott unseren Vater nennen, unser Leben durch sein Wort bestimmen lassen, das Kom­men seines Reiches mit Vorfreude erwarten und uns seinem Willen anvertrauen. Das ist der Grundton des Gebets.

Durch alle Zeiten bleibt das Vaterunser erklärungs­bedürftig. Es lädt uns immer wieder ein, sich neu über Gott und über uns Gedanken zu machen.

Nicole Friedrich

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